Osterkalender 2019
Der Tag, an dem ich kein Kind mehr sein durfte …
Kennt ihr das, wenn ihr glaubt, weder Fisch noch Fleisch zu sein? Ekeliges Gefühl, was?
Hier gehörst du nicht hin, dort aber auch nicht. Oder noch nicht.
Bei uns daheim sagte man dann: Dich hat der Esel im Galopp verloren. Dabei gab´s nirgendwo mehr Esel.
Blöder Spruch.
Im Laufe meines Lebens haben mich ganze Eselshorden schon verloren, ohne dass ich je auf einem Rücken saß. Aber in Erinnerung ist mir ausgerechnet ein Osterfest geblieben.
Was war passiert?
Es war mal wieder soweit. Ostern war´s, mein absolutes Lieblingsfest von allen Festen, die so gefeiert wurden. In meiner Familie war es Tradition, dass wir Kinder in Omas Garten bunte Ostereier suchten. Ein Heidenspaß für meine Cousins, Cousinen und mich. Meine Eltern reisten dafür extra immer zu Ostern an, zwei Stunden Stillsitzen in der Bahn, aber was ist schon eine so lange Fahrt, wenn man die Großeltern wiedersehen konnte und es zum Ostereiersuchen ging. Ein Mückenschiss, sag ich euch.
Die Großen, also meine Eltern, Tanten, Onkel und meine Großeltern machten ein Riesengeheimnis darum. Alle achteten streng darauf, dass kein gefärbtes Ei vor Sonntagmorgen zu sehen war. Ein Getuschel und Geraune verstärkte die Vorfreude noch und machte einem klar, dass es bald soweit war. Freitag- oder Samstagabend wurden wir früh ins Bett geschickt. Man musste ja fit sein, um vielleicht doch noch den Osterhasen zu erwischen, wie er gerade dabei war … Aber wie früh wir auch ins Bett gingen, er war immer schneller.
„Nächstes Jahr kriegen wir ihn.“ „Ganz sicher!“
Wir Jungen gaben uns das Versprechen fest in die Hand und versuchten es immer wieder.
Erfolg hatten wir nie, aber Hoffnung.
Mit den Jahren wurde es immer unwahrscheinlicher, dass es ein Hase war. Anzeichen gab es immer mehr. Die Großen wurden nachlässig. So schickte mich meine Oma zur nahegelegenen Hühnerfarm, wo ich 80 Eier kaufen sollte. Kopfschüttelnd machte ich mich auf den Weg. Wer sollte die denn alle essen? Wir waren doch nur neun. Mein Großeltern, meine Eltern, meine Tante und mein Onkel und meine beiden Cousinen. Die Cousins lebten nebenan und hatten ebenfalls eine größere Eierbestellung zu holen. Die zählten also nicht mit. Vielleicht käme noch meine andere Cousine mit Bruder und ihren Eltern, dann wären es noch mal vier. Immer noch eine recht üppige Eierbestellung.
Als es sich schließlich nicht mehr verheimlichen ließ, wurde uns gesagt: „Oma hilft dem Osterhasen.“
Das konnte man verstehen. Bei den vielen Kindern auf der ganzen Welt, da war das sicher besser, wenn ihm jemand half. Er hatte ja auch nur Pfoten, keine Hände wie der Weihnachtsmann. Und er musste die Eier selbst schleppen. Der Weihnachtsmann hatte ja wenigstens einen Schlitten. Die Argumentation leuchtete uns also ein.
80 Eier und 20 Knickeier. Knickeier waren Eier, die aus der Norm fielen. Zu groß, zu klein oder dreckig, manchmal mit zwei Dotter oder auch einfach nur etwas angeschlagen, aber noch nicht offen und deshalb günstiger. Oma nutzte sie für Kuchen und Nudeln, die sie in rauen Mengen herstellte und über einem Stock nahe des Ofens trocknete, bevor sie in einer großen Blechdose für später aufbewahrt wurden. Alle, bis auf die, die vorher in unseren Bäuchen landeten. Gespannt saßen wir immer zu zweit oder zu dritt auf dem Sofa vor dem Küchentisch. Gab es Streusel, war das schon das erste Highlight der vor uns liegenden Tage und wir lauerten selig auf unsere Gelegenheit.
„Du bekommst Bauchweh, wenn du rohen Teig isst!“, war die Standardwarnung, aber hat es je ein Kind gegeben, das auf eine solche Warnung reagiert hat? Zumindest bei uns gab es keinen. Wir grinsten, vergruben kurz unsere Händchen unter den Oberschenkeln, um gleich darauf wieder Teig zu naschen. Oma scheuchte uns vorbeugend zum Händewaschen, damit die verbliebenen Streusel sich durch unsere Händchen nicht grau verfärbten, denn sie wusste, wir konnten der süßen Pracht nicht widerstehen. Je nachdem, wie viele Enkel sie beobachteten, passte meine Oma sogar in weiser Voraussicht die Streuselmenge für den Kuchen an. Ihr sanftes Schimpfen gehörte irgendwie dazu, wurde aber geflissentlich überhört. Omas Kuchen waren eben die Besten. Und sie verzuckerten uns die Wartezeit.
Je näher der Sonntag kam, desto ängstlicher wurde der Blick in den Himmel. Ob das Wetter hielt? Ostereier suchte man doch im Sonnenschein im Garten, wo der Osterhase leichtes Spiel hatte beim Verstecken. In der Wohnung zu suchen war nicht so prall. Die Verstecke langweilig und immer irgendwelche Beine von einem Erwachsenen im Weg. Ätzend.
Meist hatten wir Glück. Wir drängelten und schoben uns vor der Tür und jeder wollte als erster ein Ei finden. Prickelnder konnte kein Formel Eins-Rennen sein. Wir wurden aber noch vor der Startlinie wieder eingefangen. Badezimmer, Zähne putzen, Gesicht waschen. Erbarmungslos. Dabei warteten doch die Eier auf uns. Man stelle sich vor, während wir uns mit so Nichtigkeiten rumplagen mussten, würden wilde Tiere die Eier wegschleppen. Oder Kinder vom Nachbarn. Oder der Hase würde sie wieder mitnehmen. Obwohl … Letzteres wohl eher weniger, aber die Vögel. Was, wenn sie die Eier anpickten? Vergeblich unser Jammern. Die Erwachsenen waren nicht zu erweichen. Ihr strenges Gesicht duldete keinen Widerspruch, und wir fügten uns murrend und widerwillig.
Und dann … endlich … wurde die Tür geöffnet, und die wilde Horde tobte einmal quer durch den Vorgarten und dann rund ums Haus.
Mit den Jahren wurden wir Älteren bei den offensichtlichen Nestern zurückgehalten. Die sollten für die Kleinsten von uns sein. Die, die es noch nicht so drauf hatten mit suchen. Nun gut, ich zuckte mit den Achseln, das konnte man noch nachvollziehen. Aber dann kam der Tag …
Längst war klar, dass es den Osterhasen nicht gab. Aber man verdrängte es immer erfolgreich. So auch jetzt. Die Tür öffnete sich, ich stürmte an den offensichtlichen Eiern vorbei und suchte die geheimen Ecken, als sich eine Hand auf die Schulter legte.
„Nicht für dich.“ Irritiert versuchte ich mich loszureißen, überhaupt nicht begreifend, was da jemand zu mir sagte. Der Griff wurde fester. „Lass die Jungen dran. Du bist schon zu alt.“
Zu alt? Wozu? Ostereier suchen? Konnte man je dafür zu alt sein?
Hätte man mir meine Arme abgeschlagen und die Beine an den Knien gekürzt, ich hätte mich nicht schlimmer fühlen können. „Du brauchst das nicht. Sei nicht so gierig. Das ist nur für die Kleinen. Du bist zu alt.“ Ein Faustschlag im Magen, den ich heute noch spüre.
Gier? Echt? Als hätte mich die Schokolade je interessiert. Die verschenkte ich regelmäßig. Ich war mehr der Wurstfan. Nein, es war das Suchen. Dieses kribbelige Gefühl, wenn man was fand. Wie Sprudelwasser im Hirn und im Bauch. Wie Sherlock Holmes, obwohl ich den damals noch nicht einmal kannte, drehte ich mit Begeisterung jedes Primelblatt um. Es könnte ja ein Schokoladenei darunter gerollt sein. Die waren schließlich sehr klein.
Und nun sollte das alles ein Ende haben? Nie wieder?
Schock!
Mein Ostern war ruiniert. Gründlich. Hätte es fünf Tage hintereinander geregnet, alles in Schlamm getaucht, es wäre mir egal gewesen. Ich hätte es vermutlich nicht mal bemerkt.
Den Großen entging mein panisches Gesicht. – Meine plötzliche Antriebslosigkeit. – Meine Zurückgezogenheit. Um mich herum tobte das Leben, es war mir plötzlich alles sch... egal.
Nicht nur der entgangene Spaß nagte an mir. Auch meine falsch verstandene Motivation. Ich, die ich immer den Kleinen gezeigt hatte, wo die Nester lagen, die ihnen meine Eier, auch die blöden Schokoladendinger, die sie so liebten und die selten waren, geschenkt hatte, ich sollte gierig sein? Mir kamen die Tränen. Sie rannen still die Wangen herunter; keiner merkte es. Mit hängendem Kopf schlich ich zurück in die stille Küche und wartete, dass die johlende Gemeinschaft zum Frühstück mit den gefundenen Eiern auftauchte, um sie zu verspeisen.
Meine Kinderseele mit Füßen zertrampelt und der Jugendseele mit auf den Weg gegeben, dass man die Beachtung nicht wert war. Das zog länger. Es hinterließ lange noch ein schales Gefühl auf meiner Zunge, und ich würde denjenigen von damals gerne entgegenschreien: Das war nicht fair. Ich war ... nein, ich bin doch auch noch da. Habt ihr mich vergessen?
Es ist sinnlos. War es schon immer. Mal abgesehen, dass von den Personen nur noch zwei leben, verstanden hätte mich keiner. Damals nicht und heute immer noch nicht. Vermutlich hätte man nur mit dem Kopf geschüttelt, sich umgedreht oder mich blöd angemacht. Dabei hat es mich wirklich verletzt.
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Zwei weitere trübe Jahre vergingen, dann schöpfte ich wieder etwas Hoffnung. Mittlerweile wusste ich, dass wir so früh ins Bett geschickt wurden, weil die Erwachsenen dann die Eier färbten, mit Speckschwarte glänzend polierten oder Bilder aufklebten. Da wollte ich mitmachen. Unbedingt. Wenn ich schon kein Kind mehr war, dann gehörte ich also zu den Erwachsenen. Logisch, oder?
Weit gefehlt. „Wenn du konfirmiert bist, dann darfst du. Vorher nicht.“ Na toll. Kind nicht, Erwachsener auch nicht. Ich war enttäuscht.
Dazu kam die Erniedrigung, mit den Zwergen ins Bett gescheucht zu werden, obwohl man doch nicht zu ihnen gehörte. – Wohlgemerkt: zwei Stunden vor der üblichen Zeit. – Ich lag wach und hörte das Kichern aus der Küche, begleitet von dem Schnarchen der Zwerge. Nun gut, ein wenig bedauerte ich mich selbst. Zugegeben. Trotzdem! Die Hilflosigkeit ob der empfundenen Ungerechtigkeit färbte jeglichen Gedanken tiefschwarz. Nur schwer schlief ich endlich ein.
Es war eine ätzende Zeit. Ich fühlte mich ausgestoßen. Nirgendwo dazuzugehören tat weh. Dazu kam, dass in der Zeit auch der Schulwechsel stattfand. Auch hier war die Zuordnung nicht einfach. Ich kam in eine weiterführende, fremde Schule. In meiner Klasse kannten sich alle schon seit Jahren. Ich kannte keinen. Die Folge war klar.
Eierfärben durfte ich dann erst mit fünfzehn, zwei Jahre nach der Konfirmation. Es war Arbeit, aber zumindest eine winzige Befriedigung.
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Lange habe ich daran zu knabbern gehabt. Es hat mich sensibilisiert für Ausgestoßene, mich interessiert, wie sie in die Lage kamen. Und ob ich etwas gegen dieses miese Gefühl unternehmen konnte, das ich gespürt hatte und nicht vergessen konnte.
Aber es dauerte noch einmal mehr als drei Jahrzehnte, bis ich mich mit Ostern endgültig aussöhnte. In den Jahren dazwischen sorgte ich persönlich für meine bunten Eier. Ob in Beziehung oder nicht: gefärbte Ostereier, wenn auch nur mit Gräsern, Socke und Zwiebelschalen gefärbt, waren Pflicht. Und dann kam das Ostern mit den Kindern meines Freundes.
Tage vorher wurde wieder der Himmel beobachtet. Sonntagmorgen war ich noch früher als sonst wach und huschte allein durch den Garten. Die Stille beruhigte mich, gleichzeitig spürte ich wieder das Sprudelwasser in den Gliedern, und ich gab mir echt Mühe, die Verstecke machbar, aber nicht zu offensichtlich zu wählen. Die Zeit dort im stillen Garten, der Tau, Sonnenstrahlen, die kitzelten, die ersten Vogelstimmen und die bunten Eier … all das beflügelte mich … und nahm mir den jahrelang mitgeschleiften Groll. – ICH hatte es in der Hand, – ja ich – dass sich keiner ausgestoßen fühlen musste. Egal wie alt.
Meine Güte, dieses Ostern war fast noch besser als meine Erinnerungen an die Kindheit.